Besuch einer scheinbar ganz normalen Bäckerei auf dem Land, die seit über 40 Jahren bekannt ist für ihre Bioprodukte. Und doch ist etwas anders: Bio-Beck Lehmanns grosse Motivation, Menschen mit Handicap in die Arbeitswelt zu integrieren.
Doch von vorne. Lanterswil, ein winziges Dorf in der Thurgauer Gemeinde Bussnang. Knapp 100 Einwohnerinnen und Einwohner leben da, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen. Die Anfahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist eher mühsam, weshalb sich Geschäftsführerin Anna Lehmann als Chauffeuse für ihren Besuch engagiert. Treffpunkt ist der Bahnhof von Märwil. Von dort geht es in fünf Autominuten nach Lanterswil, dem Zuhause von Bio-Beck Lehmann.
Sozial kompetent
«Vier integrierte Arbeitsplätze für Menschen mit Handicap sind im rund 50 Mitarbeitende zählenden Betrieb mit Produktion und Verkaufsladen eingebettet», erzählt Anna Lehmann, während sie ihr Auto über die kurvige Landstrasse steuert. «Wir bieten auch Arbeitsplätze für Menschen, die keine geradlinige Karriere hinter sich, aber ihr Herz durchaus am rechten Fleck haben. Diese Mitarbeitenden mit Integrationshintergrund sind sehr loyal und pflichtbewusst», weiss sie und weiter: «Es sind Menschen mit kognitiven und psychischen Störungen, selten mit körperlicher Behinderung. Oft bekunden sie Mühe, Zusammenhänge zu verstehen.
Daher ist das Arbeitstempo bei uns manchmal etwas gemächlicher und steht nicht generell an erster Stelle. Menschen mit Handicap können zwar nicht alles, aber vieles», schmunzelt Anna Lehmann. «Die Handicaps unserer ‹Integrierten› sind uns aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes teilweise nicht genau bekannt. Sie reichen von epileptischen Anfällen bis zum Asperger-Syndrom, eine Form des Autismus. Menschen mit Handicap sind treu und hilfsbereit. Wir machen sehr oft gute Erfahrungen mit ihnen. Deshalb finde ich, dort, wo dies sinnvoll ist und die Stelle sich dafür eignet, sollte man dies probieren. So erhalten Betroffene eine Chance, sich in ein Team einzufügen und ein möglichst ‹normales› Leben zu führen. Einzig in Situationen, in denen viele Veränderungen auf einmal anstehen, sollte man besser zuwarten, um weder die betroffene Person noch das ganze Team zu überfordern», weiss sie aus Erfahrung. Aus Lehmanns Sicht ist der Einbezug von Menschen mit Handicap Aufgabe der Allgemeinheit: «Lohnen tut sich die Integration auf jeden Fall», ist sie überzeugt. «Nicht nur für die Betroffenen, sondern sie stellt für das ganze Team eine Bereicherung dar und fördert die Sozialkompetenz einzelner Mitarbeitender.»
Rundgang mit der Chefin
Anna Lehmann biegt in die Lanterswiler Schulstrasse ein, fährt um den Laden herum und parkiert ihr Auto hinter dem Produktionsgebäude. Einmal angekommen, erstaunt es umso mehr, hier, in diesem kleinen «Kaff», eine solch fortschrittliche Bäckerei wie die Lehmann Holzofenbeck AG vorzufinden.
«Am besten führe ich Sie zuerst durch den Betrieb, damit Sie sich selbst ein Bild von uns machen können. Anschliessend können wir das Gespräch gerne im Besprechungszimmer fortführen», sagt Anna Lehmann und geht voraus in Richtung Backstube. Es ist ein hoher Holzbau mit viel Licht und hellen Räumen. «Ein wichtiger Aspekt für eine angenehme Zusammenarbeit in Teamkonstellationen wie bei uns», erklärt sie und informiert: «Die aktuelle Backstube wurde 2002 an das seit den Anfängen bestehende Gebäude angebaut.» Ein Team ist bei der Arbeit. Beim Teigposten, wo Mehl und Getreide gewogen sowie gemahlen werden, bleibt Anna Lehmann kurz stehen: «Mehlmischungen und andere Halbfabrikate sind bei uns keine im Einsatz. Für alle Produkte, Massen inklusive, haben wir eigene Rezepte. Unser Vollkornmehl mahlen wir täglich frisch vom ganzen Korn», verrät sie mit Blick auf das Getreidemahlwerk. Weiter geht’s zu den Knetmaschinen: «Circa 600 Kilogramm Teig verarbeiten die Produktionsteams – in Tages- und Nachtschicht – jeden Tag», weiss die Geschäftsführerin.
Aus alt mach neu
Anschliessend noch ein kurzer Besuch im Laden. Alt und klein ist dieser, aber «heimelig». Die Tablare und Nischen aus Holz erinnern an eine Apotheke. «Über 80 Prozent unseres Umsatzes erwirtschaften wir mit Lieferungen», erklärt Anna Lehmann. Und weiter: «Mehr als 40 Prozent davon fallen im Bio-Fachhandel an. Den anderen Umsatzanteil erzielen wir mit einer Vielzahl unterschiedlicher Gastronomiebetriebe, die auf Bio setzen. Den restlichen Umsatz schaffen wir im Direktverkauf – mit Laden und auf Wochenmärkten.» Die Führung endet im ersten Stock des Altbaus. Die Tür zum Besprechungszimmer bleibt offen. Ausgerüstet mit Kaffee und Wasser, führt Anna Lehmann das Gespräch am Tisch wie folgt fort: «Kommendes Jahr stehen bauliche Veränderungen an. Der Altbau wird ersetzt und den heutigen Gegebenheiten angepasst.» Die gelernte Architektin freut sich sichtlich auf das bevorstehende Projekt. Sie ist zwar Bäckerstochter, hat aber mit einem Architekturstudium vorerst einen anderen beruflichen Weg eingeschlagen. Erst im Jahr 2012 ist Anna Lehmann als Quereinsteigerin ins elterliche Geschäft zurückgekehrt. «Meine Eltern, Andreas und Mares Lehmann, haben die Dorfbäckerei 1976 gekauft und weitsichtig geführt», erzählt sie. «Sie haben in den 80er-Jahren einen wichtigen Grundstein gelegt und stellten schon damals erste Produkte in Bioqualität her. Daran hat sich bis heute nichts geändert», bestätigt die Tochter. «Seit 1997 entspricht all unser Getreide der Bioknospe-Qualität.» Des Bio-Pioniers anfänglich noch kleine Bäckerei mit Dorfladen ist über die Jahre konstant gewachsen und heute weit über die Region hinaus bekannt.
Nimmt man Herausforderungen an, ergeben sich immer Chancen.
Anna Lehmann
Horizonterweiterung
Wie schon ihren Eltern liegt Anna Lehmann die Ausbildung von Lernenden sehr am Herzen. «Weil ich nicht vom Fach bin, nehme ich mich bei der fachlichen Lehrlingsausbildung bewusst zurück», stellt sie klar. «Umso mehr setze ich mich dafür ein, den jungen Berufsleuten möglichst viele Facetten des faszinierenden Bäcker-Confiseur-Berufs zu zeigen. Gerne nehme ich unsere Schützlinge – zurzeit sind es fünf Lernende – mit an eine Messe. Die durch das Produkt entstehenden Emotionen beim Kundenkontakt an der Front zu erfahren, ist sehr eindrücklich für sie.» Ebenso überzeugt ist Anna Lehmann vom Ausbildungsprojekt «Lehrlingsaustausch» der Erfa-Gruppe «Creaback», in der sie aktiv mitwirkt. «Eine grosse Chance für die Lernenden, in einer neuen, aber beruflich dennoch vertrauten Umgebung Erfahrungen zu sammeln. Dabei erweitert sich ihr persönlicher Horizont, es fördert ihre Sozialkompetenz sowie die Flexibilität. Für die Mitarbeitenden des Betriebs ist das Projekt ebenso bereichernd», freut sie sich.
Von Mund zu Mund
Kein Wunder, stellen die eigens ausgebildeten Lernenden die Hauptquelle dar, wenn es um eine Stellenneubesetzung geht. «Sieben von dreissig bei uns in der Produktion tätigen Personen haben wir selbst ausgebildet! Von den Lehrabgängern verlangen wir aber, dass sie sich einmal bewerben und sich in einem neuen Team bewähren», fügt Anna Lehmann sogleich an. «Anschliessend dürfen sie sehr gerne zum Bio-Beck Lehmann zurückkehren», sagt sie lächelnd und ergänzt: «Erfolgreich sind wir auch mit der Mund-zu-Mund-Werbung durch unsere Mitarbeitenden, wenn wir eine Stelle offen haben.»
Stolpersteine als Motivation
«Meine Bürotüre ist grundsätzlich für alle offen», erzählt Anna Lehmann. «Ein offenes Ohr für meine Mitarbeitenden zu haben und ihre Meinungen ‹abzuholen›, ist mir ein Anliegen. In der Feedback-Kultur haben wir noch Verbesserungspotenzial», gibt sie unumwunden zu. «Bei so vielen und verschiedenen Teammitgliedern gibt es immer die eine oder andere ‹Baustelle›, das gehört dazu. Nimmt man Herausforderungen an, ergeben sich immer Chancen», ist Anna Lehmann überzeugt. «Das Wichtigste ist, ständig in kleinen Schritten zu justieren, um im Team vorwärtszukommen und den Weg gemeinsam zu gehen», fasst sie zusammen.
Bildung bildet
«Die Aufgabe der Teamleiter, Menschen mit Handicap in die Arbeit einzubeziehen, ist eine Herausforderung. Grundsätzlich ist keine Spezialausbildung der Kaderleute nötig», sagt Anna Lehmann. «Der Wunsch einer meiner Führungspersonen, ein Arbeitspädagogik-Modul zu absolvieren, hat mich dennoch sehr gefreut. Mit der Eingliederung haben wir gute wie schlechte Erfahrungen gemacht, wie mit ‹normalen› Mitarbeitenden auch», erzählt sie. «Meli zum Beispiel hat sich integriert und weiterentwickelt: Sie ist seit fünf Jahren bei uns. Nach der Anlehre in einer Institution hat sie im Sommer mit grossem Berufsstolz die EFZ-Lehre bei uns gestartet. Voll integriert.» Ein schöner Abschluss der Geschichte von der etwas anderen Bäckerei.
Fotos: Jonas Weibel