Sven Wassmer ist zurück auf der grossen Gastrobühne. Im Restaurant Memories im Grand Resort Bad Ragaz schätzt sein Team jedes Lebensmittel gleich wert und entwickelt Rezepte bis zur Perfektion. Dabei stehen Luxusprodukte weniger im Fokus als «einfache» Lebensmittel. Gerichte, die Erinnerungen wecken und neue Erinnerungen schaffen.
Das Grand Resort Bad Ragaz liegt ausserhalb von Bad Ragaz und ist einfach zu finden. Auf der grossen Einfahrt begegnen wir Frauen und Männern mit ihren Caddies im typischen GolfOutfit. Schwierig, aber auch spannend wird es erst im Labyrinth des Hotels, wo man gut achtgeben muss, um das Restaurant Memories zu finden. Teilweise abgelenkt von kleinen Shops mit Sportartikeln, Kosmetikprodukten und Restaurants, folgen wir den Wegweisern. Dabei erhaschen wir Einblicke in das einzigartige Bad, das in der Architektur seines- gleichen sucht. Von den Eindrücken überwältigt, stehen wir unverhofft vor den verschlossenen Türen des «Memories». Durch die gläserne Eingangstüre erscheint mit einem breiten Lachen im Gesicht Sven Wassmer. Mit seinem Dreitagebart und seinen braunen Augen wirkt er für mich als Vaterfigur, obwohl ich einige Jahre älter bin als er. Er ignoriert die Sie-Form und stellt sich als Sven vor.
Die Küche im Restaurant
Das Restaurant ist nur am Abend geöffnet und bietet seinen Mitarbeitenden eine Fünftagewoche. Im Innern stellen zwei Restaurationsmitarbeitende Tische zusammen. Durchlässige Trennwände aus hellem Holz bieten einen Sichtschutz zwischen den Tischen. Die Küche ist ein Teil des Restaurants. Der braune Marmor und das helle Holz strahlen Wärme und Wohnlichkeit aus. Im warmen Licht der Küche arbeiten sechs Köche an verschiedenen Kochinseln. Einer davon reinigt mit einer Bürste kleine, schwarze Trüffeln. Sven führt uns an den Tisch direkt vor der Küche.
Der Brotgang
«Mit dem Restaurant Memories ist mein Traum Wirklichkeit geworden», beginnt Sven zu erzählen. «Wir genossen bei der Konzeptentwicklung viele Freiheiten. Dabei hat uns die Direktion des Grand Resort Bad Ragaz toll unterstützt. Das Konzept baut auf Produkte aus biodynamischem Anbau. Diese kommen vorwiegend aus den Schweizer Alpen. Für mich gibt es keine erst- oder zweitklassigen Lebensmittel, wie dies beim Fleisch oft unterschieden wird. Bei den unterschiedlichen Fleischstücken sind wir Köche gefordert, die korrekte Zubereitungsmethode einzusetzen. So finde ich Filet etwas Langweiliges. Es gibt spannendere Fleischstücke. Jedes Lebensmittel erhält in unserer Küche den gleichen Stellenwert. Brot war und ist ein Lebensmittel, das uns besonders fordert. Leider ist Brot in vielen Gastrobetrieben nur Kostentreiber und wird in unterschiedlicher Menge und Qualität dem Gast vor die Nase gesetzt. Bei uns ist Brot nicht nur Beilage zu Fleisch und Gemüse, sondern auch ein Gericht, das einen der Gänge in unserem Menü darstellt.»
Bei uns ist Brot nicht nur Beilage zu Fleisch und Gemüse, sondern auch ein Gericht, das einen der Gänge in unserem Menü darstellt.
Sven Wassmer
Culinary Director von «Memories» und «verve by sven»
Sechs Monate bis zur «Geburt»
«Ein halbes Jahr hat sich Andy Vorbusch, Chef-Patissier, mit der Weiterentwicklung des Sauerteigs auseinandergesetzt », erzählt Sven und steht auf. Mit wenigen Schritten stehen wir in der Küche bei Benedikt Gerster. Mittlerweile hat Andy seine Backkunst an Benedikt, den Sous-Chef, weitergegeben. In einer Schüssel mit Wasser schwimmt ein Teig mit leichten Blasen. «Wenn der Teig schwimmt, hat er genügend Gas entwickelt, und wir verarbeiten ihn weiter», erklärt Benedikt. Er stellt die Schüssel mit dem Teig-Wasser-Gemisch auf eine Waage und schüttet vorsichtig Weissmehl und ein wenig Vollkornmehl dazu. Er knetet die Masse zu einem Teig. Währenddem erzählt er: «Gasarme Teige ergeben kein luftiges Brot. Durch Wärme erhöht sich der Gasanteil im Teig.» Vorsichtig legt er den Teig in eine Tuchschale, die er leicht mit Reismehl bestäubt hat.
Sauerteig ist einzigartig!
Mit Einsatz von Sauerteig entstehen individuelle Geschichten, mit denen sich Bäckereien wie Gastronomiebetriebe profilieren und genau das erzählen können, was für die Konsumenten relevant ist.
Teigfütterung
Erst jetzt bemerke ich, dass ein Restteig übrig geblieben ist. Benedikt ist schon wieder am Wägen. Zu gleichen Teilen werden 27 °C warmes Wasser und Weissmehl zum Teig gegeben, sodass jetzt doppelt so viel Teig in der Schüssel liegt. Meersalz kommt 30 Minuten später dazu. «Jeden Tag backen wir einen Teil, und den Rest nähren wir mit Wasser und Weissmehl.» Den Teig gibt er in einen Plastikkessel und erklärt: «Dieser bleibt bei Raumtemperatur eine Stunde in der Küche. Anschliessend kommt er in den Kühlraum. Andy stellte vor etwa sieben Monaten mit Weissmehl, Wasser und Salz den Mutterteig her. Seither wird jeden Tag aus einem Teil Brot hergestellt und der Rest mit Mehl und Wasser gefüttert. »
Die Teige werden täglich gefüttert.
Benedikt Gerster
Sous-Chef
Intensivpflege
Die runden Brotlaibe lagern im Kühler. Nur in der Teigherstellung ausgebildete Köche bearbeiten die Teige. Dies gilt besonders an den Freitagen der beiden Profis. Der Sous-Chef nimmt den ersten Brotlaib aus dem Kühler. Mit zwei Fingern zieht er den Teig heraus und legt ihn wieder zurück. «Das machen wir etwa acht Mal alle 30 Minuten. Dadurch erkennen wir, ob der Teig elastisch genug ist», erklärt Benedikt. Etwa zwei Stunden vor dem Backen steht die nächste Teigpflege an. Mit einem Teighorn schabt er den Teig über den Chromstahltisch. «Mit dieser Bearbeitung wird der Teig runder und erhält eine gewisse Spannung», führt Benedikt weiter aus und stellt den Etagenofen auf 280 Grad. Kurz bevor die Brote gebacken werden, schneidet er sie mit einem scharfen Messer ein. Zwei Stunden bevor die ersten Gäste eintreffen, backt der Sous-Chef die Brote. Beim Einspritzen von fünf Deziliter Wasser zischt der Ofen und der Dampf treibt die Laibe in die Höhe. Nach 26 Minuten eilt er zum Ofen und dreht die Brote um 180 Grad. «Der Ofen heizt ungleichmässig, durch das Drehen wird die Kruste rundherum gleichmässig braun», erläutert Benedikt. Nach 36 Minuten durchströmt ein feiner Brotgeschmack die Küche. Sven, vom Brotduft angezogen, gesellt sich zu uns. Seine Augen leuchten. Gemeinsam testen die beiden leidenschaftlichen Köche den Geschmack des 18 Stunden gereiften Brotes, als ob sie dies zum ersten Mal täten.
Das emsige Treiben
Mittlerweile bereiten einige Restaurationsmitarbeitende den Abendservice vor. Überrascht beobachte ich eine gutgelaunte Mitarbeitende, die eine Schachtel auspackt. Zu meinem Erstaunen kommt ein Bügeleisen zum Vorschein. Freudig sucht sie die nächstgelegene Steckdose. Kurze Zeit später bügelt sie auf den Gästetischen sämtliche Falten aus den blendend weissen Tischtüchern. Eine Praktikantin sprüht ein wenig Vodka auf die Teller und reibt sie dann trocken. Auf meine Frage, warum sie Vodka verwende, erklärt sie mir im Bündner Dialekt. «Damit werden die Teller geruchsneutral.» Langsam, aber sicher baut sich das Restaurant zum Gastraum mit seinem edlen und doch warmen Ambiente auf.
Benedikts Brotshow
Nach ein paar Schritten sind wir wieder in der Küche. Und nochmals bin ich verblüfft. Sven steht breitbeinig an einer Kochinsel. «Bewaffnet» mit einer langen Pinzette sucht er in zwei grossen Blechen mit Heidelbeeren nach unreifen Beeren. Zielsicher entfernt er diese in eine Chromstahlschüssel. «Jedes Lebensmittel hat den gleichen Wert», beantwortet Sven meinen fragenden Blick. Nun ist die Zeit reif: Das gebackene Sauerteigbrot ist bereit zur Degustation. Benedikt richtet das Brot in einem ausgehöhlten und mit Heu ausgelegten Baumstrunk an. Wir sitzen an der Bar mit bester Aussicht auf die arbeitenden Köche. Benedikt zeigt uns, wie er das Brot jeden Abend seinen Gästen präsentiert. Mit Herzblut und einem Leuchten in den Augen erklärt er in zwei Minuten dessen Herstellung. Im Restaurant Memories ist die Gleichwertigkeit der Lebensmittel Tatsache. Ob Trüffel aus den Schweizer Alpen, handverlesene Heidelbeeren oder das Sauerteigbrot: Jedes dieser Lebensmittel hat das Potenzial, als «Star» für einen Menügang bei Sven engagiert zu werden.
Fotos: bienz-photography.ch